FLUGMENSCHEN

TRAVEL JOURNAL | SOMMER 1996

FLUGMENSCHEN

Im Hochschulmagazin MUTABOR 7/96 hatte ich einen Artikel verfasst über uns Flugmenschen und deren wunderbare Verwandlung, den ich hier als leicht überarbeiteten Text wiedergebe. Viel Spaß beim Lesen und mit der angegebenen Literatur, die ich sehr empfehle.

 

ART IMPRESSION INDICATOR

NEWCLEAR POWER •|||•••••••• FUNNY FALLOUT

HENNING ALBERTI

FLUGMENSCHEN

 

ÜBER DIE WUNDERBARE VERWANDLUNG ZUM FLUGMENSCHEN

Noch hat meine Verwandlung zum Flugmenschen nicht endgültig stattgefunden, doch mit jedem Schritt komme ich dem Zustand näher. Der Ort, an dem es geschehen soll, ist nicht mehr weit.

Konzentriert werden die Füße – Schritt für Schritt – auf den schmalen Pfad gesetzt, um die letzten Höhenmeter zu überbrücken. Die innere Anspannung erweckt das Bewußtsein. Immer wieder suche ich nach den Zeichen: Was macht der Wind, wohin treiben die Wolken. Aber es gibt nichts Beunruhigendes. Ich habe mein Wissen, auf das ich mich ab jetzt verlassen muß.

Eine leichte Brise streicht den Hang hinauf, angetrieben vom termischen Motor tief unter mir. Im Tal, in 900 Höhenmetern Differenz, wird der Boden von der Sonne erwärmt und die darüber befindliche Luft in Bewegung gebracht. Sie hat nur eine Möglichkeit zum Entweichen, durch stetige Emporsteigen. ›So soll’s sein‹, denke ich, ›bald wird diese wunderbare Kraft genutzt werden!‹

 

Wollte der Mensch nicht schon immer dieser Richtung folgen? Hinaufsteigen in die Luft? War es nicht schon immer der Traum der Menschheit, den Luftraum zu erobern, zu fliegen?

Der Wissensstand und die Bedürfnisse der Menschen in der Vergangenheit ließen diesen Anspruch noch gar nicht zu. Denn erst das Begreifen der wahren Dimension des Himmels erlaubte es, den Gedanken an das Betreten des Raumes über ihnen zu denken.

Für die Ägypter vergangener Zeiten war der Himmel gerade mal ein Tuch, gespannt in geringer Höhe von einer Seite zur anderen. Bekannte Gallier fürchteten sich wie viele andere Völker, daß der Himmel herabstürzen könnte, also wagte man gar nicht erst den Versuch, ihm zu nahe zu kommen. Und die historischen Versuche eines Ikarus endeten nach kurzem Flug in geringem Abstand zum Boden, da er »der Sonne schon zu nahe war und sie ihm das Wachs zwischen den Federn schmolz.« – Das war eine Warnung, es ihm nicht sobald gleichzutun…

Wenn es also nicht eine religiöse Furcht war, so war es doch zumindest ein irdisches Nichtwissen, das die Menschen davon abhielt – oder gar nicht erst auf den Gedanken brachte – den Boden unter den Füßen zu verlieren und die dritte Dimension zu betreten.

 

Das 15. Jahrhundert brachte ein Genie hervor, das nicht sich zum Naturwissenschaftler, sondern die Natur zum Feld der Wissenschaft erklärte: Leonardo da Vinci wollte mit konkreten und rational erdachten Ideen in den Raum zwischen Erde und Himmel mit der Technik des Vogelfluges eintreten. Und dabei half ihm nicht die himmlischen Eingebungen, um seine meisterhaften Kunstwerke zu schaffen, sondern irdische Versuche.

Es war seiner unerreichten Genialität und ausgesprochene Beobachtungsgabe zuzuschreiben, die ihn seine Flugmaschinen konstruieren ließen: »Mit einem Ding übt man gegen die Luft soviel Kraft aus als die Luft gegen dieses Ding. Du siehst, wie die Flügel, die gegen die Luft geschlagen werden, bewirken, daß sich der schwere Adler in der höchsten dünnen Luft halten kann. Aus diesem augenfälligen Grund kannst Du ersehen, daß der Mensch die Luft wird unterjochen und sich über sie erheben können, wenn er gegen diese mit seinen großen von ihm gefertigten Flügeln eine Kraft ausübt und den Widerstand überwindet.«

Das unüberwindliche Problem bei Leonardo und den anderen Experimentatoren vor und nach ihm, war die einseitige Fokussierung auf den Flügelschlag der Vogels. Denn trotz durchdachter Konstruktionen war und sollte er auch in der Zukunft nicht möglich sein, der menschengetriebene Flügelschlag.

Es dauerte noch einige Jahrhunderte, bis das aerodynamische Prinzip als Hauptauftriebsfaktor formuliert wird, obwohl Leonardo es damals bereits erahnte. Leonardo da Vinci war es somit nicht möglich gewesen, wirklich zu fliegen. Die Menschheit hatte die richtige Idee noch nicht gefunden – vielleicht hatte die Idee die richtige Menschheit noch nicht gefunden.

 

Nur noch eine Geröllfeld durchqueren und die Felskuppe umrunden, dann müßte ich eigentlich da sein, wo ich hin will. Die weiche Sommerluft ist erfüllt vom Duft nach Gräsern, die in der Hitze getrocknet sind. Jeder Schritt löst eine kleine Wolke aus Staub aus, die ursprüngliche Farbe meiner Stiefel ist längst überdeckt. Aber nicht nur die Farbe hat sich gewandelt. Denn während des Aufstiegs mit dem Wissen um das bevorstehende Abenteuer hat sich auch meine Gedankenwelt verändert und neu strukturiert. Die verstrichene Zeit während des Aufstiegs und die Überwindung der Höhenmeter haben einen Mechanismus aktiviert, der mich vom alltäglichen Gedankenballast befreit. Ich bin innerlich erleichtert, was mit hier oben zugute kommt. Unnötiges Gewicht kann ich für mein Vorhaben nicht gebrauchen.

Ich bin hellwach. Das Bewußtsein wird für bevorstehende funktionale Abläufe gesteigert, die Sinne geschärft. Der Verstand tritt klar hervor aus der alltäglichen Gedankenwelt und wartet darauf, inspiriert zu werden.

Ich erreiche das gesuchte Ziel, der flache Gipfel nach dämm Aufstieg. Ich bleibe an einer kleinen freie Fläche mit leichtem Gefälle stehen. Sie endet an einer Kante, an der ich einen wunderbaren Blick ins Tal und in die Ferne habe. Ich ruhe mich aus, lehne mich auf mein unspäktakulär aussehendes Gepäckstück, den Rucksack, und genieße den Ausblick. Heute soll ich hier der erste und einzige sein, der sich an dieser Stelle zum Flugmenschen verwandelt?! Es wird ja wohl ganz einfach gehen, so wie es tausende Menschen schon gemacht haben, gerade tun und noch tun werden.

 

Doch wie war es damals, als Menschen unbekanntes Terain betreten wollten, Luftbereiche eroberten, die bis dahin unerreichbar schienen. Ein Antoine de Saint-Exupéry am Anfang des 20. Jahrhunderts schreibt, daß die Erde uns mehr Selbsterkenntnis als alle Bücher schenke, weil sie uns Widerstand leiste. Und im Kampf finde der Mensch zu sich selber. Aber er brauche dazu ein Werkzeug, einen Hobel, einen Pflug. So stelle auch das Flugzeug, das Werkzeug des Luftverkehrs, den Menschen alle alten Weltenrätsel gegenüber und werde ihnen zum Werkzeug der Erkenntnis, erinner ich aus seinem Buch "Wind, Sand und Sterne".

Hier oben sind seine Gedanken wunderbar nachvollziehbar. In seinen Schilderungen sehe ich deutlich, daß ein Mensch nicht um der Technik Willen fliegt, sondern den Flug nutzt, um der Seele alle Offenheit und Größe zu bieten, und diese schöpferisch tätig werden zu lassen. Er sagt über den Piloten im Flugzeug, sein Blick sei weit wie der der Bergbewohner, kein Dichter könne tiefer die Ahnung der Morgenröte empfinden als der Pilot, denn aus der harten Not schwerer Nächte habe der das Erscheinen der blassen Lichtbüschels ersehnt, dieses Schimmers, der im Osten dem schwarzen Lande entstieg. Die Maschine sei kein Ziel und darum sei auch das Flugzeug kein Zweck, sondern ein Werkzeug, ein Gerät, nichts anderes als ein Pflug, so Antoine de Saint-Exupéry.

 

Ich öffne meinen Rucksack und rolle den Schirm auf dem Boden aus. 26 Quadratmeter Stoff, die mich tragen sollen. Während ich mich mit meinem Flügel verbinde, denke ich an die klobige Fliegerausrüstung eines Saint-Exupéry zu Beginn der Fliegerei. Auch meine sitzt am Boden noch etwas umbequem.

Kurz vor dem Start ist der Kopf frei von alltäglichen Gedanken. Da ist Raum für Konzentration. Das Fluggerät muß richtig sitzen und perfekt abgestimmt sein. Am Boden vergessene Einstellungen können nach dem Start gefährliche Folgen haben. Ich stehe mit ausgebreiteten Armen am Abhang. Unzählig viele Leinen und Gurte führen durch meine Hände zum Schirm, der hinter mir am Boden liegt. Ich gehe einen Schritt nach vorne und lehne mich kräftig ins Gurtzeug. Dadurch werden die Leinen gespannt. Der Schirm öffnet die an der Vorderkante befindlichen Luftklappen. Er füllt sich mit Luft und erhält sein Profil. Erst jetzt wird die laminare Strömung am Flügel aufgebaut. Mein Schirm steigt in voller Fläche hinter mir auf. Nun steht er über mir, getragen von der leichten Talbrise. Mit einem Blick sehe ich, daß alle Leinen korrekt verlaufen, mit zwei Schritten nach vorn verlieren die Beine das zu tragende Körpergewicht und anschließend die Füße den Kontakt zum Untergrund. Im Englischen wird dieser Moment ›airborn‹ genannt – ich werde in die Luft geboren!

Der erste Aufwind hebt mich empor. Der Abstand zum Boden wird schnell größer. Aber auch der innere Abstand zur Welt da unten nimmt zu. Die Luft singt in den Leinen und ich mache es mir in meinem Sitz gemütlich. Es ist ein wunderbares Gefühl, die Erde unter sich zu sehen, auch wenn es nur einige hundert Meter Entfernung sind. Ich habe den Kontakt zum Boden physikalisch und emotional verloren. Hier oben empfinde ich keine Höhenangst. Diese auf der Erde existierende Angst ist eine Kraft, die mir die Verbindung zur Erde ganz besonders bewußt macht. Beim Emporsteigen eines Turms wird der Abstand zum Boden vergrößert. Solange der Kontakt zu festem Boden unter den Füßen nicht unterbrochen ist, nimmt die Angst mit der Höhe zu. Das ist nicht so beim fliegen.

 

Betrachte ich die äußerlich sichtbaren Entdeckungen der Menschengeschichte als Spiegel der inneren, dann wurde mit der Erfindung des Flugzeuges das erreicht, wovon Menschen träumten, ja es im Traum sogar immer erleben: Jede Nacht löst sich ein Teil aus uns, fliegt hinaus in andere Welten, erlebt den Abstand zum Leben am Boden und entwickelt dadurch ein enormes Potential an Phantasie! Das Erwachen ist nichts anderes als ein Landen auf dem Boden der Wirklichkeit.

 

Für Leonardo war das Fliegen ein phyikalisches Problem, das mit rationalem Verstand gelöst werden sollte. Ein St. Exupéry nutzte die Technik, um die Seelenwandlung zu erleben und entwickelte eine persönliche Romantik und Poesie.

Und heute? Das Erleben der Überwindung der Schwerkraft ist für jeden von uns erreichbarer den je geworden – beim Sportfliegen oder im Großraumflugzeug. Die Frage, ob die Fliegerei den Geist aktiviert, wird mit der Sensibilität des einzelnen beantwortet. Der Geist hat der Menschheit lenkbare Flügel verschafft, jetzt ist es an der Zeit, den Geist zu beflügeln. Unser Bewußtseinsentwicklung sollte uns erlauben, auch ohne Körperfliegen neue Welten im Geiste zu ergründen um so zu selbstgeschaffenen und individuellen Erkenntnissen zu gelangen.

Ein Pilot aus der Welt des Großraumfliegens, Rudolf Braunburg, schrieb in "Himmel über der Erde", daß unsere Erde ein riesiger unerforschter Planet und endlos in seinem Mysterium sei. Und plötzlich sei da die Luftfahrt da, der mechanisch umgesetzte Traum und ermögliche den Blick von oben – und alles sei übersichtlich und durchsichtig. Sofort erhebe die Technik Urheberanspruch. immer noch stehe hinter ihr der Mensch, der sich ihrer Geräte bediene. Es sei dem Menschen überlassen, durch ihre Vermittlung zu einem eigenen Weltbild zu kommen, neue Methoden zu entwickeln, alternative Projekte in die Welt zu setzen und in die verkrustete alte Wirklichkeit einzuschleusen.

Mit diesen Gedanken setze ich meinen Flug fort, der unaufhaltsam irgend wann im Tal unter mir enden wird und mich als erneuerter Mensch zurück auf die Erde bringt.

Henning Alberti

 

 

Ich empfehle die erwähnte Literatur

Rudolf Braunburg "Himmel über der Erde" und alle Werke von Antoine de Saint-Exupéry.