ein Rollifahrer und eine Vision – Wie Nik aus dem Rollstuhl auf das Kiteboard kam. Klingt unglaublich? Ist es auch. Aber im Herbst 2004 tatsächlich geschehen. Hier der Artikel von mir für das Free Magazin und für Nik, Hücki, Björn und alle Beteiligten. Lest selbst.
Dagebüll, September 2004. Die Fähre nach Föhr ist noch nicht eingetroffen. Sonnenstrahlen glitzern auf der Nordsee, Zeit verliert ihre Grenzen. Die wartenden Urlauber wandern über die Pier. Das Fährpersonal läuft von Wagen zu Wagen und kontrolliert die Fahrscheine, Kinder springen auf dem Spielplatz umher, Familienväter klettern auf Poller, Touristen stehen auf Bänken und sehen auf das Meer. Die Menschen können wandern, laufen, springen, klettern, stehen – alltägliche Bewegungen. Für jeden?
Ein junger Mann sitzt im Rollstuhl und wartet auf die Fähre. Er kommt aus Österreich. Er will in die Windsurfschule Hückstädt in Nieblum auf Föhr. Der junge Mann erlernt Kiteboarding! Er hat zwei Wochen Zeit, um das im vergangenen Jahr begonnene unglaubliche Projekt fortzusetzen. Er heisst Niklas Lanquetin und wird von seinen Freunden ›Nik‹ genannt.
Die Fähre legt an. Die Touristen strömen über die Rampe an Bord und die Treppen hinauf zum Aussichtsdeck. Einige schlängeln sich durch die eng geparkten Autos zum Bug des Schiffes.
Nik rollt zu seinem Kleinbus, den er selber fahren kann. Für ihn sind die steile Rampe zum Schiff, die hohe Türschwelle vom Schott des Gepäckraums, die schmale Treppe zum Passagierdeck unüberwindlich.
Nik ist ein freundlicher, aufgeschlossener Mensch. Im Sommer 2001 war er Surflehrer auf Föhr bei Windsurfschule Hückstädt. Im folgenden Winter bat Surflehrer Dirk Hückstädt erneut und Niks Mithilfe. Nik freute sich darauf, zurück auf die Insel zu kommen und auf die Arbeit in der Surfschule. Er sagte zu Dirk: ›Selbstverständlich helfe ich Dir. Gleich nach dem Snowboardwinter komme ich auf die Insel.‹ Er kam nicht nach Föhr. Er kam ins Krankenhaus.
›Paraplegie‹, Querschnittslähmung wird es genannt, wenn eine starke Einwirkung einen Rückenwirbel bricht und die darin verlaufenden Nervenstränge trennt. Der Bruch verheilt, die neuronale Versorgung der unteren Extremitäten bleibt für immer unterbrochen. Nik kann seine Beine nicht mehr spüren. Sein Leben hat sich verändert. Mobilität erlangt Nik in einem Rollstuhl, auf der Suche nach abgesenkten Bürgersteigen und verbreiterten Türen. Treppen sind unüberwindbar, die gewöhnliche Dusche wird zum Hindernis, Rollstuhlfahren ist im Sand unmöglich.
Nik hat sich nach dem Unfall nicht aufgegeben. ›Als ehemaliger Windsurffan wollte ich unbedingt wieder Wassersport betreiben. Durch Wasserski und Wakeboarding kam ich darauf, Kiteboarding zu lernen und rief Dirk in 2003 an.‹ Nik hatte bisher noch nie einen Kite in den Händen gehalten. Für Dirk gilt, daß nichts stärker ist als eine Idee, die einmal gedacht wurde. Er sagt zu Nik: ›Wir probieren es. Versuch macht kluch.‹ und geht zu seinem Freund Björn Hansen. Der ist Insulaner und er ist motiviert. Er hat Nik ins Herz geschlossen und investiert seitdem wie Dirk jede freie Minute für Nik. Björn ist die treibende Kraft im Projekt.
Wie soll ein Kiteboard für Menschen im Rollstuhl aussehen? Dirk, Nik und Björn entwerfen Ideen für das neue Sportgerät. Ein Kiteboard mit einem Sitz versehen. Brettsteuerung durch Schwerpunktverlagerung. Die Füße in einer breiten Fußschlaufe auf dem Bug fixieren. Chickenloop am Sitz befestigen. Sicherheit berücksichtigen. Depowerweg verkürzen, um die Bar zu erreichen. Soviel zur Theorie des Sportgeräts. Der erste Prototyp für das Board entstand. Nik brachte einen eigens dafür angefertigten Sitz aus Metallrohr mit, in dem das Becken festen Halt findet. Der wurde auf einem Directional mit viel Volumen fixiert.
Und der Kite? Er muß jederzeit und alleine wiederstartfähig sein. Dafür kommt nur ein System infrage. Ram-Air-Kites von Flysurfer. Eine schriftliche Projektbeschreibung hat Erfolg. Die Idee wird mit drei neuen Kites von Flysurfer unterstützt.
Im Sommer 2003 kehrte Nik zum ersten Mal nach seinem Snowboardunfall zurück auf die Insel. Für ihn war alles anders. Seine Motivation und sein Ehrgeiz sind ungebrochen. Die erste Kitesurfversuche waren ernüchternd. Das erste Board hatte zuviel Volumen und kenterte auf. Der Kite zog Nik unkontrolliert durch das Wasser. Das Brett liess sich nicht steuern. Die tauben Beine kühlten den Körper unbemerkt aus. Zweifel kamen auf, ob das Projekt jemals zu einem Erfolg werde. Was wäre, wenn die Versuche fehlschlagen und Niks Traum zerplatze?
Dirk und Björn bauen einen Strandbuggy zur Handsteuerung um. Damit hat Nik die Möglichkeit, im Watt mit dem Kite zu trainieren. Stundenlang übt er die Handhabung des Drachens. Die Unzufriedenheit ist Nik mit Schlick ins Gesicht geschrieben. Er ist frustriert. Er steht immer wieder kurz vor der Aufgabe. Er will mehr. Er will Kitesurfen. Björn verhilft jedesmal zu neuer Kraft: ›Aufgeben gibt es nicht. Wir haben keine Zeit für keine Lust, also rein in den Neo und ab ins Wasser!‹
In einem neuen Versuch übte Nik mit einem Bidirectional ohne Volumen. Es kam der Tag, an dem zum ersten mal alles stimmte. Die Laune war gut, das Wasser warm, der Wind wehte mit moderaten 4 Bft. Dieser Tag sollte zum Erfolg führen. Björn berichtete: ›Nik war nach vielen Fehlversuchen körperlich am Ende. Ein letzter Versuch wurde gekrönt von einem perfekten Start und einer gefahrenen Strecke von 25 Metern. Ist nicht weit? Ist eine Sensation!‹
An Abend verschickte Dirk eine Kurznachricht, die alle Bedenken auslöschte an die wenigen Eingeweihten. Darin stand: ›Er fährt!‹ Schlagartig wendete sich das Blatt. Neue Hoffnung kam auf. Für 2003 war Niks Zeit auf Föhr beendet.
September 2004. Auf der Insel angekommen, läuft Björn Nik lachend entgegen und steigt zu. Eine herzliche Begrüßung. Nik und Björn erreichen die Windsurfschule Hückstädt. Der Wagen kommt auf dem sandigen Parkplatz zum stehen. Das Gelände der Schule liegt zwischen Dünen und besteht aus Holzhütten, Riggständern und eine Holzveranda, die zum Strand ausgerichtet ist. Die Sonne scheint. Dirk ist da. Wind weht. Die Flut hat den Höchststand erreicht. Es kann gleich losgehen. Das Revier vor der Schule ist optimal für die Kiteschulung geeignet. Eine ausgedehnte Sandbank, die bei Flut nur knietief überspült wird erlaubt es, dass Nik per strandtauglichem Rollstuhl ins Wasser gebracht wird, das Board auf den Sandgrund ins Wasser stellt und in den Sitz klettert. Der Kite von Flysurfer wird für die ersten Versuche von Dirk gestartet und im Safetyzustand auf dem Wasser abgesetzt. Eine Leine führt quer über Niks Oberschenkel von einer Seite vom Sitz zur anderen. Mit Block und Vichardschäkel dient sie als Trapezhaken für den Chickenloop. Nik steht mit der nach Lee zeigenden Brettspitze auf dem Sandgrund. Dirk kniet auf dem Heck.
Kaum hat Nik die Safetyleine gelockert, startet der Kite und Nik wird davongezogen. Dirk bleibt im flachen Wasser zurück. Die Beteiligten stehen hinter ihm. Alle staunen. Nik fährt. Er gleitet angekantet in Richtung Ufer. Niemand traut seinen Augen, als er vor dem Strand den Kite durch den Zenit lenkt, den Oberkörper nach Lee neigt und seine erste Halse fährt, um dann weiter zu fahren. Nik kann es selbst kaum fassen. Er ist noch nie so weit gefahren! Zurück bei der Schule beschreibt er das Glücksgefühl: ›Nach diesem, ich möchte fast sagen göttlichen Erlebnis zu starten, zu gleiten und dann noch zu halsen gelang mir anschließend sogar ein Start im Alleingang!‹
Ein besonderer Moment. Nik ist der erste querschnittsgelähmte Mensch, der auf einem Kiteboard fährt!
Es folgen zwei windlosen Wochen, dann ist Niks Zeit auf Föhr vorbei. Er schwingt sich aus seinem Rollstuhl in den Kleinbus. Geschickt hebt er vom Fahrersitz an der B-Säule vorbeigreifend den Rolli in den Wagen, zieht die Tür zu und fährt los. Als Kiteboarder verläßt er die Insel.
In Dagebüll will Nik vor der langen Rückfahrt nach Innsbruck die Erlebnisse der vergangenen Wochen überdenken und steigt aus dem Wagen in den Rollstuhl. Er hat Hunger. Hinter dem Deich ist ein Imbiss. Der steile Weg ist anstrengend für einen Rollstuhlfahrer. Am höchsten Punkt auf dem Deich dreht er sich um und sieht zurück zur Insel. Nik hat Hoffnung. Er wird zurückkommen. Dann beginnt er, die abschüssige Strecke auf der Rückseite vom Deich hinunterzufahren. Er spürt, wie leicht er hier herunterrollen kann, ohne Kraft, schneller als alle Fußgänger, einfach nur rollen.
Henning Alberti
Sponsorensuche, Kontakt und Dank:
Um Niks Bemühungen, Kiteboarding für Querschnittsgelähmte zugänglich zu machen, ist Hilfe nötig. Nik erfährt viel Unterstützung von der freundschaftlichen Gemeinschaft rund um die Windsurfschule Hückstädt und von der Inselgemeinde Föhr. Die gespendeten Kites von Flysurfer sind massgeblich dafür verantwortlich, das Projekt erfolgreich voranzutreiben. Nik, Dirk und Björn suchen weiterhin dringend Unterstützung bei der Entwicklung eines geeigneten Kiteboards, für einen verstellbaren Sitz und für einen massgeschneiderten Neoprenanzug.
Internet:
www.moeglichkiten.com
www.nws-foehr.de