Wenigstens einmal im Leben sollte man sich auf eine abgeschiedene Insel zurück ziehen. Dafür muss man nicht einmal weit fahren. Auf der Nordseeinsel Föhr kann man die großen Abenteuer in sich selbst finden, wenn man Dirk Hückstädt begegnet…
Wenigstens einmal im Leben sollte man sich auf eine abgeschiedene Insel zurück ziehen. Dafür muss man nicht einmal weit fahren. Auf der Nordseeinsel Föhr kann man die großen Abenteuer in sich selbst finden. Vorausgesetzt, man trifft dort Dirk Hückstädt, lässt sich von seiner Ruhe anstecken und lernt von ihm, auf die Natur zu hören. Auf die uns umgebende wie auch auf die in uns selbst schlummernde.
Eine Insel ohne Meer ist auch keine Insel!", schimpft der dicke Tourist, als er am Strand von Nieblum aufkreuzt. Er blickt kurz über die matschige Wattfläche, sieht nirgendwo Wasser - und ist empört. Er hat eine feste Vorstellung: Für ihn ist eine Insel vom Meer umgeben. Das trifft für Föhr nur zeitweilig zu. Leider stellt er sich nicht die Frage, ob es nicht auch einen anderen Inselbegriff gibt.
In seinen gelben Regenmantel gehüllt, stapft er durch den feuchten Sand davon und nimmt sich nicht einmal die Zeit, um die endlos wirkende Wattfläche zu betrachten. Hätte er es getan, wäre ihm vielleicht eine Gestalt aufgefallen, die sich weit von ihm entfernt entlang der Linie bewegt, an der Erde und Himmel aufeinander treffen.
Die nackten Füße sinken nur leicht in den Schlick. Dirk ist lange gelaufen und hat dabei auf die Wellen geachtet, die neben ihm am Sand lecken. Nur, wenn er genau hinsieht, stellt er fest, daß die einlaufenden Wellen eine etwas größere Strecke zurücklegen als das anschließend ablaufende Wasser – die Flut kommt. Das erste Mal seit Stunden hebt er den Kopf und blickt zurück zu seiner Insel. Schlagartig prallt ein neues Ereignis auf ihn herein: der Eindruck der Größe, der ihn bei dem Blick in die Ferne überkommt, reißt die Gedanken regelrecht aus dem Kopf. Und während er weit entfernt eine Person im gelben Regenmantel zwischen den Dünen verschwinden sieht, formuliert er seinen eben geträumten Gedanken: „Manchmal stehe ich am Fenster, blicke hinaus, und doch ist es so, als sehe ich in einen Spiegel, schaue tief in mich hinein, schaue in den Spiegel der Natur und erkenne meine Seele. Dann träume ich den Traum, den jeder Mensch mindestens einmal träumt, den Traum vom ewigen Leben. Ich blicke auf eine Umwelt, die gesünder aussieht, als sie ist, und ich wäre gerne schon am Leben gewesen, als sie noch gesund war. Doch das ist lange her. Ich sehe auch eine Umwelt, die keine gute Umwelt mehr ist. Eine Umwelt, in der wir nicht mehr ohne Schutz überleben können. Doch ganz so weit ist es noch nicht. Ich sehe Menschen in meinem Traum, die ich nie gekannt habe, da sie lange vor mir auf der Welt waren. Und ich sehe Menschen der Zukunft, die versuchen, den Rest einer lebenswerten Umwelt zu retten und daraus eine neue, heile Welt zu erschaffen. Auch diese Menschen kann ich nicht kennen, und doch sind sie mir vertraut, Freunden gleich, die mich respektieren als einen, der in ihrer Vergangenheit lebte, als es noch gesunde Bereiche auf der Welt gab. Als einen, der dort versucht hat, in den Menschen Freunde zu sehen und mit ihnen daran arbeitete, das zu retten, was noch zu retten war. Immer mehr Menschen würden gemeinsam für eine gesunde Umwelt leben. Warum habe ich in meinem Traum so oft Angst? Weil es eben nur Träume sind, in denen ich ewig lebe, in denen Freundschaft für immer hält, Gleichgesinnte immer in der Nähe sind. Aber in der Realität endet alles einmal. Mein Leben ist zu kurz für die Aufgaben, die ich mir stelle, für die Verwirklichung meiner Träume. Möchte ich deshalb für immer leben? Nein, denn dann gäbe es zu viele Menschen, die ich getroffen und wieder verloren hätte. Und dabei verliere ich sie doch schon in meinem kurzen wahren Leben. Zu ihnen kehre ich zurück, wenn ich am Fenster stehe und mir die Umwelt meine Seele vorspiegelt. Ich träume, um ein Ziel zu suchen, es zu finden und zu erleben, auch wenn das ewig dauern sollte!“
Langsam, aber unaufhaltsam folgt das Wasser Dirks Füßen im Schlick. Mit jeder neu einlaufenden Welle verschwinden wieder ein paar Abdrücke im Sand hinter ihm. Er geht eine Weile und erreicht den Strand. Der Wind hat aufgefrischt und drängt dunkle Wolken aus Westen über den Himmel. Ein Schauer geht nieder. Dirk sucht Schutz im Windschatten hinter den Brettständern am Strand und blickt sich um. Seine Fußabdrücke reichen nicht mehr weit ins Watt.
Der Schauer läßt nicht nach. Deshalb rennt Dirk los auf die Dünen zu. Eine alte Plastiktüte weht ihm gegen das Bein. Er flucht kurz über den Müll am Strand und sammelt die Tüte im Laufen auf. Der Pfad führt zwischen den Dünen hindurch auf drei Holzhütten zu, in der die Windsurfschule der Familie Hückstädt untergebracht ist. Einladend hat Dirks Vater Holger die Tore geöffnet und sitzt mit Surfschülern und Spaziergängern aus mehreren Generationen zusammen. Der Tourist im gelben Regenmantel steht dabei und hält eine Tasse Tee in den Händen. Holger erzähl: „Als Christa und ich vor sechsundzwanzig Jahren auf Gran Canaria die ersten Windsurfer gesehen haben, dachte ich sofort, das ist gut für unsere Insel. Kurzerhand haben wir den Windsurflehrer zusammen mit dem Schulungsmaterial eingepackt und nach Föhr transportiert. Die Behörden haben nicht gewusst, was das für ein Sport ist und haben uns erstmal eine Konzession für drei Jahre gegeben.“ Daraus sind jetzt vierundzwanzig Jahre Schulungsbetrieb geworden. Die Container von einst wurden in der Zwischenzeit durch eine fest installierte, stattliche Anlage ersetzt.
„So lange Surfschulbetrieb auf einer Insel ohne Wasser?“, fragt der dicke Tourist mehr erbost als erstaunt. „Nu töf mol af, dat löppt sik allens torecht, sons hebbt wi keen tid to klön“ - das ist alles in bester Ordnung, sonst hätten wir auch keine Zeit, zu quatschen - antwortet ihm Holger ruhig.
Dirk ist aufgewachsen in den Hütten zwischen den Dünen, am Meer, mit den Gezeiten und der Sonne, mit dem fliegenden Sand, den Touristen und dem Öl aus dem Pallas-Schiffswrack vor der Küste Nordfrieslands.
Er betritt den Raum und schmeißt als erstes die Plastiktüte weg. Anschließend läßt er sich auf einen der freien Stühle fallen und blickt in die Runde. Das Kennenlernen mit ihm findet nicht über eine formelle Begrüßung statt. Umgehend müssen die Gedanken vom Wattgang aus ihm heraus. Mit seiner rauhen Stimme und seinem theatralischen Talent zieht er die Zuhörer schnell in Bann, als er von seinen Visionen erzählt: „Wir müssen gemeinsam etwas ändern, damit sich der Zustand unserer Welt verbessert.“ Damit sagt er nichts wirklich Neues. Doch angesichts globaler Umweltverschmutzung fühlen sich viele Menschen machtlos. Dirk beginnt trotzdem bei dem Abfall, der am Strand liegt, und den jeder selbst einsammeln könnte. Vielleicht erhält die Welt durch kleine Schritte und kollektives Umdenken eine Chance, für die nächsten Generationen lebenswert zu sein. „Ich möchte nicht, dass meine Kinder und Kindeskinder in zugeklebten Neos und mit Gesichtsschutz, abgeschirmt von Chemikalien im Meer und aggressiver UV-Strahlen, versuchen, ein Naturerlebnis zu haben.“ Seine Worte sind geprägt von Sorgen angesichts der negativen Zukunftsaussichten, von einer klaren Einschätzung der gegenwärtigen Umweltsituation und dem Drang, etwas zu verbessern. „Wenn ich die Möglichkeit habe, auf meiner kleinen Insel Menschen zu versammeln, bei denen ich spüre, dass sie dieselben Befürchtungen in sich tragen wie ich, dann muss ich alle Möglichkeiten nutzen, um ihnen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Dass jeder für sich im Kleinen etwas tun kann.“ Dirks Eifer färbt auf seine Zuhörer ab. Sie rutschen auf den Stühlen hin und her und sind bemüht, jedes Wort aufzunehmen. Jeder möchte seine eigene Geschichte erzählen von guten Taten und großen Träumen.
Zufrieden mit dem Gespräch und glücklich in dem Gefühl, Träume teilen zu können, zieht Dirk sich mit einer Gruppe von Schülern für eine Weile zum Surfunterricht zurück. Der dicke Tourist bleibt mit Holger zurück. Er hat die ganze Zeit geschwiegen.
Nun mag es naiv klingen, wenn man glaubt, dass durch die Diskussion über eine weggeworfene Plastiktüte die Probleme der Welt gelöst werden. Aber es ist beachtlich, was Dirk durch seine charismatische Art und seine unermüdliche Motivation in Bewegung setzt. Die Auswirkungen sind überall sichtbar. So war sein Einsatz für den Deutschen Windsurf Cup auf Föhr in den letzten Jahren zunächst einem Kampf gegen Windmühlenflügel. Widerstand kam von Behörden ebenso wie von Fahrer- und Sponsorenseite. Dirk jedoch wollte den schlechten Ruf von Föhr - selten Wasser und schon gar keine Wellen - auf jeden Fall widerlegen. Und für Dirk galt schon damals, dass nichts stärker ist als eine Idee, die einmal ernsthaft gedacht wurde: „Wir zogen einen Cup auf, der in allem anders war als andere Cups. Die Organisation war perfekt, im Fahrerlager herrschte durchweg gute Stimmung, nie zuvor wurden so viele Rennen in so kurzer Zeit gefahren und gewertet.“ Er ist stolz auf das Ergebnis, lobt auch seinen Kollegen Mampy Schlachtschütz vom Surfshop „Wind & Wetter“ auf Föhr. Und das auf einer Insel ohne Meer? Der Erfolg sprach sich herum und auf der „Boot“ in Düsseldorf durfte sich Dirk ein paar Lorbeeren abholen: Mr. Neil Pryde klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, weil der mit dem Erfolg nicht gerechnet und eigentlich die Kanaren als Austragungsort bevorzugt hätte.
Woher nimmt Dirk dieses vielfältige Talent, einerseits den Problemen eines einzelnen Menschen soviel Einfühlung entgegen zu bringen und andererseits den Anforderungen einer Rennveranstaltung gerecht zu werden? „Kommunikation“ ist das Eröffnungswort, mit dem er die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf sich lenkt. Die Kunstpause steigert die Neugier auf die Erklärung. „Die meisten Menschen versuchen, mit den auf sie eintreffenden Problemen allein fertig zu werden. Das gibt Gedankensalat. Bei Grübeleien bewegt man sich im Kreis. Du landest dort, wo du begonnen hast. Und dann komme ich und sage: ‚Erzähle mal!‘ So wirst du versuchen, mir zu erklären, was in dir vorgeht. Du musst deine Probleme auf einmal so formulieren, dass sie dein Gegenüber versteht. Du musst einen Anfang finden und die Ereignisse in eine Reihenfolge bringen. So wird aus dem Kreis eine Gerade - und die hat eine Richtung. Beginne früh mit diesen Gesprächen, der Knoten ist dann leichter zu öffnen." Und tatsächlich beginnt jeder in seiner Gegenwart, über seine ureigensten Bedürfnisse zu sprechen. Dirk weiß aus seiner Vergangenheit, dass Probleme ganz natürlich sind und Schwächen normal. Verleugnet man diese, müsste man sich verstellen. Verstellt man sich, entfernt man sich von sich selbst. „Dann kommt es bald so weit, dass du nicht mehr weißt, wer du bist. Sprichst du über dich, bekommt alles eine Form, und du kannst dich selbst besser einschätzen.“ Das gilt für die Organisation der eigenen Persönlichkeit ebenso wie für den reibungslosen Ablauf einer öffentlichen Veranstaltung.
In Dirks Gästen breitet sich Zufriedenheit aus. Viele verlassen den Ort mit dem Gefühl, sich seit langem wieder natürlich verhalten zu haben in einer Oase der inneren Ausgeglichenheit. Nur der dicke Tourist in dem gelben Ölmantel geht kopfschüttelnd in Richtung Strand davon. Er hat es nicht verstanden, warum erwachsene Menschen sich mit Jugendlichen gegenseitig die persönlichsten Seiten offenbaren, und denkt sicher: „Dieser Hückstädt ist einfach nur ein Spinner.“ Am Strand staunt er dann nicht schlecht, als er das Meer vor sich sieht…
Der Wind frischt zum Abend auf und vertreibt die dunklen Wolken. Die Tide hat ihren höchsten Stand erreicht. Wellen laufen auf den Strand. Für die Surfschüler ist der Wind zu stark geworden, und somit bleibt es heute beim theoretischen Unterricht. Dirk kann nun selber Surfen gehen. Ein weitläufiges Stehrevier vor der Schule lädt zum Manövertraining ein. Obwohl die Wellen nur kniehoch sind, zeigt Dirk den staunenden Spaziergängern am Strand radikale Table Tops. Das Schulrevier wird zur Spielwiese mit Zuschauertribüne. Zuschauer benötigt Dirk ebenso wie Zuhörer.
Erst am Abend, nachdem die Schüler gegangen und die Touristen in den Ferienwohnungen verschwunden sind, wird er wieder still und nachdenklich. Er verschließt die Tore der Schule und blickt über die Dünen hinweg auf das Wasser, das sich langsam entfernt. Wie der feste Sand, der dadurch wieder zum Vorschein kommt, erscheinen auch ihm wieder Gedanken: „Die Befangenheit der Leute, sie könnte mich krank machen. Dabei könnte doch jeder von uns zufrieden sein. Man muss nur fest an sich selbst glauben. Das ist natürlich oft schwierig in einer Zeit, in der die meisten Menschen gefangen sind in den Regeln unserer Zivilisation. Gefangene von Sitte und Moral. Wer macht diese Gesetze? Sind nicht die Sittenprediger die Gefängniswärter? Unterwerfen sich die Gefangenen nicht freiwillig oder zumindest unüberlegt und unbewusst diesen Gesetzen? Gefangener seiner selbst? Ich denke, jeder kann sich selbst daraus befreien, wenn er wirklich will. Das versuche ich, den Leuten zu sagen. Viele behaupten, ich sei ein Spinner und nehmen mich nicht ernst. Sie können mich nicht akzeptieren, weil sie sich selbst nicht akzeptieren. Angst vor mir? Es ist vielleicht Neid, weil ich bin, wie ich bin, und mich zu befreien versuche. Ich breche aus dem Gefängnis der Gesellschaft aus und bin für viele ein wildes Tier. Aber es gibt auch Menschen, die mich anerkennen, wie ich bin. Es sind meine Freunde, die zu mir stehen. Die Tatsache, dass diese Menschen mich als individuelle Person akzeptieren, macht jeden einzelnen von ihnen einzigartig. Diese Menschen treten hervor aus der Masse der ängstlichen, angepassten und intoleranten Gesellschaftsgefangenen. Ich glaube, dass dies der richtige, wenn auch schwierigere Weg ist."
Mit diesen Gedanken will er das Schulgelände verlassen, dreht sich noch einmal um und entdeckt in der Dämmerung den Mann im gelben Regenzeug, wie er sich von einer Düne erhebt und auf ihn zukommt. Als er vor ihm steht, reicht er Dirk die Hand und sagt: „Ich habe längst nicht alles verstanden, was Du erzählt hast. Aber ich glaube, ich beginne jetzt, Deine Insel zu erkennen.“
Henning Alberti